Flussverlauf

Dort wo etwas aufhört, fängt etwas Neues an. Und dazwischen liegt eine Reise, ein Weg. Und auf dem Weg, auf der Reise, da kann es durchaus passieren, dass etwas ganz anderes aufhört und etwas anderes neu anfängt. Und das fängt sich gerne an, zu überlagern. Schicht auf Schicht, Wege über Wege, Monate über Monate, Jahre über Jahre. Eine Reise in einer Reise in einer Reise in einer Reise. Leben als fluider Übergang zwischen Ende und Anfang. Und da möchte ich ja eigentlich durchaus gerne denken, dass es alles Kreise sind, die sich schließen werden, Wege, auf die man zurückfindet, die zu Ende gegangen werden können. Das bleibt dann aber doch eher Wunschdenken. Wobei die Frage dann doch angebracht wäre, wo ein Weg eigentlich zu Ende gegangen ist. Wo hört ein Weg auf und wo fängt er an? Wege hören ja auch nicht unbedingt dort auf, wo alles danach aussieht, das der Weg aufhört - ein überwundenes Hindernis weiter sind ganz andere Möglichkeiten. Zäune und Mauern sind nur "Herausforderungen", der Kopf muss einfach weiter denken. So ist es dann doch vielmehr eher ein Fluss, der sich seinen Weg sucht, stetig vorwärts. Aber wann startet eine Reise, und wo hört sie auf? Wie weit kann man rein- und rauszoomen? Ahnenbücher als Blick ins Über, ein Monat im Vergleich ein Blick ins Detail. Dabei kann ein Monat schon eine dermaßen lange Reise, bzw eine unglaubliche Anzahl an verschiedenen Reisen sein.

Mai 2022 würde ich dazu zählen. Ein Lola rennt Monat. Losgelaufen und nicht mehr angehalten (bzw bin ich wahrscheinlich schon in den Monat hinein gerannt, oder mit einer Strömung hineingeflossen). Improvisation ist das Gefühl, sich die ganze Zeit in die Enge zu treiben, um zu sehen, was dann passiert, wie das Verhalten in Situationen, die eine Entscheidung verlangen, sein wird. Und das zu forcieren. Ein stetiges sich Provozieren, ein vor sich hin mäandern. Flüsse fließen nicht gerade, gerade Flüsse sind Erfindungen der Menschen. Inzwischen baut er Mensch begradigte Flüsse wieder zurück und merkt, dass er noch viel zu lernen hat, der Mensch, was die Natur auf dem Wege der Improvisation über eine verdammt lange Zeit herausgefunden hatte.

Mai war eine stetige Dauer Provokation. Ganz am Ende des Monats war ich sogar auf meiner eigenen Beerdigung. Viel weiter kann es der Monat Mai eigentlich nicht schaffen. Wege sind eben auch nicht immer so geradlinig, wie die Annahme so ist. Improvisation ist nicht verkehrt bei nicht vorhersehbaren Wegen. Eigentlich könnte sie grundsätzlich zum Prinzip erhoben werden, wenn sie nur nicht auch so anstrengend wäre. Dafür ist sie immer wieder von sehr kostbaren Momenten der Klarheit geprägt.

Und ich finde, dass aufgenommene Stück Anfang Juni spiegelt das alles recht gut wieder. Das Bild hierzu entstand im Rathaus Mitte. Und auch dieser Weg ins Rathaus erinnerte mich noch die ganze Nacht daran, dass mehr Vertrauen in Improvisation wirklich nicht verkehrt wäre, egal wann, egal in welchem Kontext.

Und nein, Improvisation ist nicht Intuition. Das mag ein erheblicher Anteil sein, aber es ist ein Zusammenspiel, von alldem, was uns als Menschen ausmacht. Und je besser man als Mensch in all den einzelnen Aspekten ist bzw über sie Bescheid weiss, desto besser kann das Improvisieren gelingen. Am Ende mag es nicht verkehrt sein, so gut in etwas zu sein, dass es wieder verlernt werden muss. Improvisation ist an dem Punkt durchaus ein Glasperlenspiel. Und das Spiel wird besser mit offenen Armen und einem offenen Herz begangen. Und man weiss um seine eigenen Grenzen und hat Lust darauf, sich diesen zu stellen.

Es kann gar nicht genug für Improvisation geübt werden. Und das ist kein Widerspruch, nein. Die Kunst liegt am Ende darin, sich immer wieder neu zu überraschen. Im Guten, sowie im Schlechten. Kann ein Fluss einen Fehler machen? Er fliesst einfach, sucht sich seinen weiteren Weg. Und auf seinem Weg ändert sich durchaus auch manch zurück liegendes Stück des Weges. Manch Blockade wird unter- oder überspült. Der Verlauf leicht angepasst. Menschlich gebaute Staudämme bleiben am Ende nur ein Hindernis. Die Illusion, man könnte den Lauf eines Flusses im Guten bestimmen, die bleibt eine Illusion. Es bleibt also die Herausforderung, den Verlauf mit offenen Armen anzunehmen.


Gespielt und aufgenommen am: 05.06.2022

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